Die meisten von uns wissen nicht viel von ihnen und das wenige vermischt sich mit Fabel, Märchen und Legende genau wie Nordlicht mit Mitternachtssonne, Smörbröd mit Biksemad (Reste-Eintopf) und Knäckebrot. Dabei sind sie alle phänomenal: Dänemark mit den Faröern und Grönland, Schweden und Norwegen, Finnland und Island – dem Süden so fern, dem Polarkreis so nah. Länder, die nach Schnee und frisch gemähten Wiesen riechen, nach Holzfeuer und Latschenkiefer, nach Land und Meer, salziger Luft und ewigem Eis.
Skandinavien liegt beim deutschen Urlauber auf der Beliebtheitsskala hinter dem eigenen Land (23%), Spanien, Italien, Österreich und der als Gesamtheit gesehenen Nachbargruppe Tschechien, Polen, Ungarn immerhin auf Platz 5 noch vor Frankreich, was kulinarisch gesehen eine gewisse Ausgewogenheit verrät. Eine Reise nach Skandinavien lockt wegen der grandiosen Vielseitigkeit der Landschaften und der spektakulären Naturschauspiele, der lebendigen und lebenswerten Metropolen und der unverkrampften Lebenseinstellung der meisten Nordländer.
Aber lieben wir auch ihre Küche? Natürlich, Smörbröd geht immer!
Smörbröd mit Hering
Roggenbrötchen halbieren, beide Hälften mit einer Paste aus gehackter Petersilie, Dill, Ziegenfrischkäse, Pfeffer, Zitronensaft und Meerrettich bestreichen, Friséesalat darauf legen. Räuchermatjes kurz abspülen, trocken tupfen, in schmale Streifen schneiden, eine Brötchenhälfte damit damit belegen und zuklappen.
Alternativ: Gegrilltes oder pochiertes Fischfilet. Oder gehacktes rohes Lachstartar, das in Meersalz, Pfeffer, Dill, Sauerrahm und roten Pfefferkörnern gewälzt wurde. Marinierte Atlantiksill oder Räucherfisch mit Radieschen und Dillgurken, grönländische Krabben mit Hüttenkäse, Kräutern und gepfefferten Erdbeeren. Wer es lieber fleischig mag, bestreicht grobkörniges Roggenbrot mit Senfbutter, Kapernrahm, Gänseschmalz oder Preiselbeersahne und legt gesottenes Hühnchenfleisch, Wildschwein- oder Rentierschinken, Rebhuhnsülze oder Schafsbratwurst mit eingelegten roten Zwiebeln, Wildpilzen oder Brunnenkresse darauf.
Brathering
Frische Heringe, Makrelen, Meeräschen bieten sich ganz besonders zum Braten in einem Stück und auf der Haut an. Zunächst in Mehl, Salz und Pfeffer wenden, dann in heißem Öl von beiden Seiten goldbraun ausbraten. Hervorragend passt ein Dressing aus frischen Kräutern, Limettensaft, Zitronenabrieb, Zucker, Kapern und einer Prise Wasabi. Man kann den Fisch damit übergießen oder ihn hineintunken. In Wein gedünstete rote Bete, kleine Kartoffeln oder kross aufgebackenes grobes Roggenbrot mit Gänseschmalz ergänzen das Geschmackserlebnis.
Die Philosophie der neuen nordischen Küche
Spätestens hier ist ein Vorurteil hinfällig, das bereits vor längerer Zeit obsolet geworden ist. Waren es noch vor 15-10 Jahren die obligaten süßlichen roten Würstchen und fettigen Blätterteigteilchen, mit denen man an schwedischen Strandimbissen verwöhnt wurde, ist der Norden heute längst aus dem kulinarischen Dornröschenschlaf erwacht. Wobei man von einer einzigen nordischen Küche natürlich nicht sprechen kann. Aber genau wie in der Sprache Schwedens, die auch Norwegisch und Dänisch beeinflusst, zieht sich durch die heutige nordische Küche ein schmackhaftes Band der Gemeinsamkeit. Es besteht aus der Übereinkunft, sich wieder auf die staunenswerte heimische Vielfalt an Ackerfrüchten, Wildpflanzen, Beeren, Weidevieh, freilaufendem Wild, Wildvögeln zu besinnen – nicht zu vergessen natürlich den immer noch immensen Fischreichtum aus See und Hochsee, an Meeresfrüchten, Schalentieren und Zuchtfischen. Alte Gemüsearten, vergessene Nutzpflanzen und Vieharten erleben auch gerade ein Revival. Dänemark erfreut sich an 120 Sorten Rhabarber und 400 Apfeloriginalen!
Unter einem hohen nordischen Himmel und im pastosen Licht, das Künstler seit jeher liebten, gedeihen bodenständige, schmackhafte und bekömmliche Gerichte - modern in Szene gesetzt. Der neolithische Jäger und Sammler ist in den nordischen Ländern noch ausgeprägt zu besichtigen – besonders in Schweden zieht man mit Leidenschaft hinaus in Wald und Flur, um zu sammeln, was die Natur reichlich spendet. Allein 60 Beerensorten locken Naschkatzen ins Unterholz.
Wildbeerengrütze
1 kg möglichst frisch gesammelte Waldbeeren (Blau-, Molde-, Kroatzbeeren) mit Heidelbeersirup und Wasser aufkochen, reduzieren. Mit Zimt, Kardamom, Vanille würzen, mit Reismehl andicken, kühlen. Dazu passen Hirseküchlein oder eine Grütze aus Haferflocken, Soja- oder Reismilch, Zucker und gemahlenen Mandeln.
Auf vergnügliche Weise lässt sich dies nacherleben im dänischen Movie „Babettes Fest“ (Regisseur: Gabriel Axel) aus dem Jahr 1987. Eine französische Köchin verirrt sich Anfang des 19. Jahrhunderts aus den Wirren der Revolution in ein schlichtes Dorf in Jütland und bereitet den asketisch lebenden Bewohnern – allesamt Mitglieder einer pietistischen Sekte, die anfangs abwehren, sich aber dann der kulinarischen Faszination nicht entziehen können - ein Festmahl erster Güte – mit ausgesuchten Spezialitäten, die eigens aus Frankreich herbeigeschafft und vorher noch nie in dieser ärmlichen Gegend gesichtet wurden. Hier regierten Hafergrütze, Dörrfisch und Kartoffelstippe. Wobei dies köstlich schmecken kann (mit der entsprechenden Zutat bereitet).
Nordische Bratkartoffeln
Lutefisk (Dörrfisch)
Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die einheimischen Traditionsküchen geringer geschätzt, selbst ambitionierte Köche richteten sich nach den Küchenweisen aus, die von der iberischen Halbinsel und vom Mittelmeer her zu ihnen drangen. Feine Gastronomie kochte französisch. Mit dieser Vernachlässigung der einheimischen Ess-Traditionen ging ein Niedergang bei den Erzeugern und landwirtschaftlichen Handwerkern einher. Die Produktqualität sank, das Beste der Länder ging in den Export.
Heute glänzen über Skandinavien die Michelin-Sterne
Geniale Köche wie Claus Meyer und René Redzepi in Dänemark stehen für die Initialzündung einer Küchenbewegung, die fast einem Erdrutsch gleichkam. Unzufrieden mit der Ernährungssituation und Kochkultur im Lande begründeten sie ab 2004 die neue nordische Küche, die Nordisk Mad oder nordic cooking. Die Keimzelle der Bewegung, das Restaurant NOMA in Kopenhagen, katapultierte sich innerhalb ein paar Jahren an die Spitze der weltbesten Restaurants und begründete eine nordische Küchensensation, die munter dabei war, die Mittelmeerküche und auch die französische Cuisine zu entthronen.
Alles zu seiner Zeit und alles aus größtmöglicher Nähe!
Auf der Tatsache basierend, dass ein pflanzliches Produkt nie praller gefüllt mit Vital- und Geschmacksstoffen ist als zum Zeitpunkt seiner natürlichen jahreszeitlichen Reife und dass Produkte aus der nahen Umgebung für denmenschlichen Organismus am bekömmlichsten sind, blühte eine ureigene Landesküche auf. Strikt mit nationalen Produkten bestückt, ist die Bewegung weit mehr als eine neue Kochtechnik.
Wenn René Redzepi in seinem Restaurant 10-14-gängige Menüs kredenzt, dann gehören zur Speisenfolge kulinarische Kleinodien vom Wildschwein, Rentier, Wildgans, Elch oder Hirsch. Ente, Moschusochse oder Schaf, Kabeljau, Krebs, Hummer oder Krabbe nicht minder, aber auch vegetarische Gerichte aus Wurzel- und Wildgemüse. Ein Stück Hase wird mit dem angeboten, was ihm auf seinem Erdenleben nahe war: Wurzeln, Pilze, Waldkräuter, Wildgemüse, Blätter. Ein Ochse findet sich in der Gesellschaft von Sauerampfer, Brennnesseln, Veilchen, Birkenwein wieder. Schnecken werden von Klee, Moos und Wurzeln umrankt, ein Rebhuhn von wilden Kohlblättern, Quittengelee und Thymianessenz. Auf einem Teller mit Rogen vom Seehasen, Steckrübencrudités und Uferkräuter-Pesto wird eine kulinarische Geschichte erzählt, wie es Hans Christian Anderson einst auf der dänischen Halbinsel Odense mit Märchenfiguren tat. Eigene Kreationen wie Seetang-Eis oder Wein aus Birkenrinde werden im angeschlossenen NOMA Food Lab ertüftelt.
Skandinavische Verbraucher, Erzeuger und Konsumenten, Genießer und Gourmets spürten den frischen Wind und schlossen sich dem Spirit der neuen nordischen Küche an. Das sich die Bewegung so schnell auch über die Halbinsel hinaus verbreiten konnte, lag nicht allein am Elan und an der visionären Kraft der Gründer. Eine rasch gestartete staatliche Initiative des „Nordischen Rat“, und mit ihm alle Landwirtschaftsminister der angeschlossenen nordischen Länder trugen die Kampagne mit. Sie soll die Ernährungskultur und die Wirtschaftskraft der jeweiligen Standorte stärken.
Eine gangbare neue Alltagsküche
Natürlich ist diese Küchenkunst elitär, ambitioniert, ausgefallen und extravagant – nichts um sich täglich gesund und geschmackvoll satt zu essen. Was die Bewegung der Spitzenköche und Sternegastronomie quer durch Skandinavien vom Kopenhagener NOMA bis zum entferntesten Eis-Iglu-Restaurant auf Grönland so nachhaltig und verdienstvoll macht? In ihrem Gefolge wuchs eine machbare und alltagsverträgliche leichte Hausmannskost, die sich auf die Wurzeln besann, die gewohnten Gerichte aber sensibel modernisierte und frisch interpretierte.
Die moderne Neufassung berücksichtigt die täglichen Bedürfnisse der Menschen. Zubereitet wird frisch, knackig, möglichst kurz gegart, einfach, aber fantasievoll und moderat gewürzt. Aparte Kombinationen –frischer Hummer mit feinem Kartoffelsalat, Makrele mit Stachelbeeren oder Rhabarber – und neue Küchentechniken und Getränke (Met, Dunkelbier und Cidre anstatt Wein als Zugabe in Gerichten) stehen neben Althergebrachtem, Gewohntem.
Hirschbällchen mit Steinpilzen und Wildkräutern
Elchbraten mit Moldebeeren
Wachteln mit Mirabellen und Ananassalbei
Gewürzte Wachteln von allen Seiten in Öl anbraten, gehackte Zwiebel, Petersilienwurzel und Petersilie mit 1,2 Lorbeerblättern dazu geben. Einige Minuten mitbraten, dann mit Cidre oder Weißwein ablöschen. 25 Minuten köcheln lassen. Entsteinte Mirabellen (alternativ: Pflaumen) mit schmoren. Kurz vor Garende gehackten Ananassalbei dazulegen. Schmeckt mit Selleriepüree, karamellisierten Karotten und Austernpilzen. Funktioniert auch mit Entenbrust.
Muscheln auf Gemüse
Kabeljau mit Blumenkohl und Rhabarber
Aus der neuen nordischen Küche findet ist lässt sich vieles adaptieren: Die Grundprinzipien Kochen nach Saison, Region, Qualität, Verzicht auf vorbearbeitete Produkte, unverfälschte Zubereitung tun jeder Kochkultur gut. Der Schwerpunkt auf Fleisch von freilaufenden, wilden oder artgerecht gehaltenen Tieren, fangfrischer Fisch aus möglichst nahen Gewässern, einheimische Gemüse und Früchte, Mut zu alten Sorten, vergessenen Nutzpflanzen und Kräutern sowie experimentellen Zusammensetzungen sind ökologische und ökonomische Fixpunkte. Ursprüngliche Garmethoden wiederzuentdecken, traditionelle Zubereitungsarten und Fertigkeiten (Dämpfen, Outdor-Grillen, Brot selbst backen, Räuchern, Früchte trocknen, Sirup einkochen, Gemüse einlegen), macht Freude.
Text: Sigrid Jo Gruner/MissWord!
Kochbuchtipp:
Trina Hahnemann, Die neue nordische Küche, UMSCHAU
René Redzepi: NOMA, Phaiton